Wie erleben Fachpersonen Young Carers?

Hatten Sie eine Begegnung mit Young Carers, die für andere Fachpersonen und/oder Young Carers inspirierend, hilfreich oder ein gutes Beispiel für ... sein könnte?
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Zitate

Meinungen und Tipps von Fachpersonen zu verschiedenen Aspekten:

  • UMGANG VON YOUNG CARERS MIT IHRER ROLLE:

"Die Jugendlichen erzählen von sich aus nicht, dass sie zu Hause Unterstützung leisten müssen, ausser sie sind sehr in Not. Für viele ist es einfach Normalität und sie kommen gar nicht auf die Idee, dass etwas nicht stimmt. Ich habe noch nie erlebt, dass Betroffene aktiv das Gespräch gesucht haben. Das liegt wie gesagt daran, dass ihre Rolle für die Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit ist. Daneben spielt auch Scham eine bedeutende Rolle – gerade bei den Jugendlichen, die die Problematik ihrer Familie erkennen." 
Gian Bischoff (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin)

"Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass die meisten Kinder und Eltern mir vertrauten und gerne zu mir in die Praxis kamen – und trotzdem haben sie nicht von sich aus das Thema 'Young Carer' angesprochen." 
"Einerseits sind sich die Young Carers oft selbst ihrer Rolle nicht bewusst, und wenn ja, verschweigen sie es, aus Scham, aus Furcht vor Eingriffen durch Sozial-, Jugend- oder andere Ämter. Die Eltern melden es aus denselben Gründen ebenfalls nicht. Wie kann eine Mutter oder ein Vater zugeben, dass ihr Sohn oder ihre Tochter für sie sorgen muss? Loyalität gegenüber den Eltern verbietet es dem Kind, sich zu erklären." 
"Beispiel: Eine Lehrerin wunderte sich mit der Zeit darüber, dass einer ihrer Schüler (11 Jahre) morgens jeweils 10-15 Minuten vor Schulschluss unruhig wurde, dann auch mal fragte, ob er austreten könne, und nicht mehr zurückkam. Als sie ihn darauf ansprach, gestand er schliesslich (widerwillig), er müsse seinen kleinen Bruder im Kindergarten abholen und dann schnell nach Hause und kochen, denn wenn sein Vater heimkomme, wolle er essen."
Rudolf Schlaepfer (ehem. Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin)

"Die jungen Menschen werden häufig sehr einsam. Sie müssen 'Nein' sagen, wenn sie gefragt werden, ob sie in die Badi oder an eine Geburtstagsparty kommen. Logischerweise finden das die Kolleginnen und Kollegen nicht so toll und wenden sich mit der Zeit ab. Verstärkend kommt hinzu, dass Young Carers häufig niemandem erzählen, in welcher Situation sie sind. Daher wissen ihre Freunde gar nicht, weshalb sie nicht mitkommen wollen. Wenn jemand sich traut, der besten Freundin davon zu erzählen, ist das oft eine grosse Entlastung."
Karin Gäumann-Felix (Pflegefachfrau und Erwachsenenbildnerin)

"Young Carers sind sich nicht bewusst, dass sie Young Carers sind – sie kommen mit anderen Problemen zu mir: Konzentrationsschwäche, Prüfungsangst – erst später merkt man, welche Ursache dahintersteckt." 
"Wenn sie jünger sind, ist die grösste Angst immer, dass Behörden (KESB) sie den Eltern wegnehmen oder dass sie zu Pflegeeltern müssen."
Peter Zahnd (Sozialberater am Berufsbildungszentrum Olten)

  • BEDÜRFNISSE VON YOUNG CARERS:

"Die meisten Young Carers wollen nicht in erster Linie entlastet werden, sondern möchten, dass man ihnen den Rücken stärkt. Sie wünschen sich zum Beispiel ein Angebot, das ihnen ermöglicht, sich monatlich mit anderen jungen Menschen zu treffen, die in einer identischen Situation sind. Und sie wünschen sich Hilfsangebote, in denen sie spezifisch gefragt werden, wie es ihnen geht und welche Entlastungen sie genau benötigen." 
Thomas Ihde-Scholl (Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler)

  • AUSWIRKUNGEN DER YOUNG-CARER-ROLLE:

"Die größte Schwierigkeit ist, dass die meisten dieser Jugendlichen sehr angepasst sind und eben gerade nicht auffallen. Sie haben gelernt, das zu tun, was von ihnen erwartet wird, und ihre eigenen Wünsche zurückzustellen. Wenn ihre Rolle zu belastend wird, kann es aber natürlich zu vielfältigen Auffälligkeiten kommen: Pubertätskrisen, Verhaltensauffälligkeiten, depressive Entwicklungen, psychosomatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen und so weiter. In erster Linie aber kommt es zu depressiven Verstimmungen bis hin zum Burnout."
Gian Bischoff (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin)

"Entscheidend ist die soziale Einbettung: Fühlt sich der Young Carer unterstützt bei der Betreuung des Familienmitglieds und tragen andere Menschen mit? Gibt es Rettungsinseln, wo der Young Carer abschalten und einfach wieder Kind oder Jugendlicher sein kann? Wird ihm der Rücken durch Hilfsangebote gestärkt? All das beugt langfristigen Beeinträchtigungen vor."
Thomas Ihde-Scholl (Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler)

  • AUSTAUSCH MIT ANDEREN YOUNG CARERS:

"Wenn Betroffene hören, dass es auch anderen so geht wie ihnen, können sie ihre Scham abbauen und trauen sich eher, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten. Das alles braucht natürlich Zeit. Aber es lohnt sich, diese Zeit zu investieren. Schließlich geht es um die Zukunft junger Menschen."
Gian Bischoff (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin)

  • INTERVENTIONEN DURCH FACHPERSONEN:

"Bei Lehr- und Fachpersonen sind oft Hemmungen vorhanden, sich ins Familiengeschehen einzumischen – oder auch nur nachzufragen, was genau läuft. Fragen darf man immer. Sobald private Probleme die Arbeitsleistung in der Schule, im Lehrbetrieb oder am Arbeitsplatz verändern, sind sie eben nicht mehr nur Privatsache. Es geht aber nicht darum, dass man als Lehr- oder Fachperson die Probleme lösen muss. Sondern darum, den betroffenen Personen eine Brücke zu einem Hilfssystem zu bauen.
Beispiel: Anklopftechnik; 'Mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit bedrückt wirken, und auch, dass Sie in Ihren Arbeiten unkonzentriert wirken. Ich würde mich gerne morgen um 15.00 Uhr mit Ihnen zusammensetzen, um dies anzuschauen. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.' So fällt man nicht gleich mit der Tür ins Haus und die Schülerin hat etwas Zeit, sich auf das Gespräch vorzubereiten."
Thomas Ihde-Scholl (Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler)

"Verständnis, Wertschätzung, Vertrauen. Nur so wird der oder die Jugendliche sich auf weitere Schritte einlassen. Diese dürfen keine Bedrohung und damit weitere Belastung auslösen. Sonst werden sich die Betroffenen wieder zurückziehen."
Karin Gäumann-Felix (Pflegefachfrau und Erwachsenenbildnerin)

"Es gibt den Satz 'Störungen haben Vorrang'. Bevor man ein Gespräch über Lerninhalte führt, sollte also angesprochen werden, was Studierenden im Weg steht oder ihren Lernerfolg behindert. Das bedeutet für mich, dass ich auch Belastungen von meinen Studierenden anspreche und nicht aus Angst oder Unsicherheit schweige."
Marcel Weber (Lehrer der Höheren Fachschule am Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Winterthur)

"Auch junge Menschen mit guten Leistungen, guten Noten, die nicht auffallen, sollte man fragen, wie es ihnen geht, wie die Situation insgesamt ist."
Peter Zahnd (Sozialberater am Berufsbildungszentrum Olten)

  • VERANTWORTUNG VON FACHPERSONEN:

"Es ist jedes Mal eindrücklich, wie nachhaltig die Thematik die Studierenden beschäftigt. Sie gehen als Wissensträgerinnen und Wissensträger in die Praxis und leisten ihren Teil zur Sensibilisierung im Gesundheitswesen."
Marcel Weber (Lehrer der Höheren Fachschule am Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Winterthur)

"Der Recovery-Ansatz ist sehr wichtig: Young Carers sind Expert:innen ihrer Situation. Man soll sie befähigen, solche Situationen zu meistern. Wenn sie merken, dass alles eine hohe Belastung, stressig ist, sollten sie lernen können, das einzuschätzen, zu verstehen, dass sie selbst etwas verändern müssen, sich zurücknehmen müssen, eine kleine Auszeit nehmen, etwas anderes tun. Sie können und dürfen das, gleichzeitig sind sie Expert:innen in diesem Bereich."
Peter Zahnd (Sozialberater am Berufsbildungszentrum Olten)

  • ANGETROFFENE YOUNG CRARES:

"Übrigens erlebe ich häufig, dass Studierende erst aufgrund der durch mich vermittelten Inhalte und Beispiele im Unterricht erkennen, dass sie selbst Young Carer sind oder waren. Oft äussern sie das nicht direkt im Klassenplenum, sondern kommen in einer Pause auf mich zu, um mir ihre Erkenntnis und ihr eigenes Erleben der Thematik unter vier Augen zu schildern."
Karin Gäumann-Felix (Pflegefachfrau und Erwachsenenbildnerin)

"Wenn Young Carers merken, dass einem die Thematik wichtig ist, öffnet das wertvolle Türen. Ich selbst habe folgende Erfahrung gemacht: Weil ich das Thema Young Carer an unserer Höheren Fachschule unterrichte, bin ich für viele Betroffene eine Vertrauensperson geworden. Viele hören bei mir zum ersten Mal eine Bezeichnung für ihre Rolle. Sie fühlen sich ernst genommen und werden sich bewusst, dass es ein weit verbreitetes Phänomen ist. Durch meinen Unterricht haben wir festgestellt, dass wir bei uns einen Anteil von 30 Prozent Young Carers haben."
Marcel Weber (Lehrer der Höheren Fachschule am Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Winterthur)


Die Zitate stammen aus dem Young-Carers-Ratgeber für Fachpersonen. Hier können Sie den Ratgeber (inkl. E-Book) bestellen.